Integrationshauptstadt Hanau

Das Projekt des Deutschen Olympischen Sportbundes „Bewegung und Gesundheit - mehr Migrantinnen für den Sport“ wird im hessischen Hanau vorbildlich umgesetzt.

DOSB-Vizepräsidentin Ilse Ridder-Melchers, Oberbürgermeister von Hanau Herr Kaminsky, DTB-Vizepräsidentin Inge Voltmann-Hummes, Integrationsbotschafterin Anna Dogonadze,  HTV Präsident Rolf-Dieter Beinhoff und Sozialdezernent Axel Weiss-Thiel mit Übungsleiterinnen in Hanau. Foto: Valentina Hallberg
DOSB-Vizepräsidentin Ilse Ridder-Melchers, Oberbürgermeister von Hanau Herr Kaminsky, DTB-Vizepräsidentin Inge Voltmann-Hummes, Integrationsbotschafterin Anna Dogonadze, HTV Präsident Rolf-Dieter Beinhoff und Sozialdezernent Axel Weiss-Thiel mit Übungsleiterinnen in Hanau. Foto: Valentina Hallberg

Das ehrgeizige, zeitgemäße und gleichermaßen sensible Vorhaben des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), in einigen gezielten und ausgewählten Pilotprojekten Frauen und Mädchen mit Migrationshintergrund anzusprechen, für das regelmäßige Sporttreiben zu begeistern und schließlich zum Eintritt in einen Sportverein zu bewegen, tritt nach gründlicher Vorbereitungsphase nun in die Phase der praktischen Umsetzung ein. Die Stadt Hanau östlich von Frankfurt am Main ist einer der zentralen Orte, an denen innerhalb des bundesweiten Projekts „Bewegung und Gesundheit – mehr Migrantinnen in den Sport“ der Deutsche Turner-Bund (DTB) seine speziell auf diese Zielgruppe zugeschnittenen und abgestimmten Angebote offeriert. Die knapp 90.000 Einwohner zählende Kommune soll sich in den nächsten anderthalb Jahren praktisch dank des Sports zu einer Art Metropole der Integration mausern.

„Wenn auf Anhieb zehn Frauen und Mädchen kommen, wäre das super“

„Ich finde diese Idee sehr spannend und bin immer offen für solche Sachen. Ich gehe davon aus, das ich es eher mit Frauen und Mädchen zu tun bekommen werde, die bisher kaum Sport getrieben haben und eher unsportlich sind“, blickt die erfahrene Fitness- und Gesundheitstrainerin Saskia Rust dem Novum entgegen. Die 36-Jährige wird am Vormittag des 2. Oktober im Nachbarschaftshaus Lamboy Tümpelgarten den ersten Rückengymnastik-Kurs einer ganzen Serie für diese spezielle weibliche Zielgruppe anbieten. Wenn auf Anhieb zehn Frauen und Mädchen vorbeikämen und mitmachen, wäre das super“, sagt die Übungsleiterin. Aber auch mit einem halben Dutzend Teilnehmerinnen zum Auftakt wäre sie zufrieden. „Und wenn zunächst nur drei kommen, dann wäre das auch nicht tragisch. Sie können dann ihre Erfahrungen weitergeben. Durch diesen Multiplikationseffekt wird die Zahl nach und nach bestimmt größer“, erklärt Saskia Rust, die sich in zwei DTB-Seminaren auf die neue Situation eingestellt hat und für das Thema „Migrationssport“ bestens vorbereitet ist.

Man müsse dafür ein besonderes Gefühl entwickeln, vor allem auch an Details denken, beispielsweise dass der Hausmeister nicht gerade durch die Halle läuft, wenn diese Gruppe trainiert, oder dass man die Kleidungsvorschriften respektiert, welche beispielsweise der Islam auferlegt. „Da braucht es natürlich viel Fingerspitzengefühl“, weiß nicht nur Saskia Rust und ist guter Dinge, dass ihr Angebot wahrgenommen wird, alsbald hoffentlich an Zulauf gewinnt und nach einigen Wochen der Eingewöhnung die Teilnehmerinnen – auch weil sie einander immer besser kennen – zunehmend lockerer werden.

Gymnastisch-turnerisch-tänzerische Angebote für Mädchen und Frauen jeden Alters

Dieselben allmählichen Fortschritte wünscht man sich in allen vier Vereinen, die sich im Zusammenspiel mit lokalen Verbänden und örtlichen Behörden seit Monaten engagieren und akribisch auf ihren Part in dem DOSB-Projekt vorbereit haben. In Hanau offerieren die Turngemeinde 1837, der Turn- und Sportverein 1860 sowie der Turnverein 1880 Kesselstadt bereits ab Ende dieses Monats im Verbund für die Migrantinnen regelmäßig drei Angebote: „Gymnastik für Frauen“, „Mutter-Kind-Turnen“ sowie „Dance für junge Mädchen“ insbesondere für Mädchen und Teenager. Als vierter Verein für den DTB wirkt  die Sport- und Kulturgesellschaft Sprendlingen 1886 im hessischen Dreieich an dem Pilotprojekt mit.

„Auf diese Weise will der Sport alle Türen für die Integration weit öffnen. Mit diesem speziellen Projekt machen wir uns auf den Weg“, unterstreicht Ilse Ridder-Melchers, DOS-Vizepräsidentin für Frauen und Gleichstellung, den gesellschaftspolitischen Hintergrund der Bemühungen. „Die Integration von Migrantinnen ist eines der großen Zukunftsthemen für unsere Vereine. Dieses Projekt richtet sich keineswegs nur an muslimische Mädchen und Frauen, sondern es ist offen für sämtliche Nationalitäten.“ Überdies sei das Thema Integration „keine Einbahnstraße“. Die Förderung und Einbindung dieser Gruppe in die Strukturen des Sports biete schließlich auch Vereinen und Verbänden neue Chancen, deren kulturelle Erfahrungen als Impuls zu begreifen, um daraus neue Wege und Programme für die Vereinsarbeit zu entwickeln.

Welche Reserven hier sowohl im Bezug auf ein besseres Zusammenleben zwischen den Nationalitäten als auch für die Mitgliederzahlen der Sportvereine schlummern, das können einige wenige Zahlen belegen. Bei den 10- und 11-Jährigen habe bislang nur jedes fünfte Mädchen zum organisierten Sport gefunden, im Vergleich zu 58 Prozent bei den gleichaltrigen deutschen Mädchen. Weniger als ein Drittel der Mädchen mit Migrationshintergrund ist sportlich aktiv, so die Ergebnisse einer vom DOSB in Auftrag gegebenen Studie. Umgekehrt wünschen sich 45 Prozent von ihnen genau dies: Sport zu treiben und entsprechende Bedingungen dafür vorzufinden.

Feminin geprägte Turnvereine für den „Integrationssport“ prädestiniert

Genau diesem Wunsch soll nun in Hanau entsprochen werden, wo nach Angaben des Sozialdezernats mehr als 35.000 Menschen leben, die nicht deutscher Nationalität sind und einen Migrationshintergrund aufweisen. „Wir sind von der Notwendigkeit und der Dringlichkeit dieses Projekts überzeugt und haben es von der ersten Sekunde an unterstützt“, erklärte Hanaus Bürgermeister Claus Kaminsky. Das damit verbundene Ziel für die Stadt, zu deren prominenten Söhnen die Brüder Grimm ebenso zählen wie der Komponist Paul Hindemith und Ex-Nationaltrainer Rudi Völler, sei klar definiert. Es gelte, dank der Kooperation mit dem DOSB und dem DTB im Sinne eines Netzwerkes nachhaltige Strukturen für die Integration von Migrantinnen zu schaffen.

Entsprechend wurde in den vergangenen Wochen genau dort, wo die Frauen und Mädchen mit Migrationshintergrund im kommunalen Alltag Hanaus zusammenkommen, das Feld bereitet, um für sie die Brücke zu aktiver sportlicher Betätigung zu bauen. Vor allem in den Stadtteil- und Nachbarschaftszentren, also dort, wo sich diese Gruppe trifft und ein- und ausgeht, hat man angesetzt, um das sportive Angebot bekannt zu machen und offensiv dafür zu werben. Etwa in den Stadtteilzentren Süd-Ost, Südlicht, Weststadt, im Nachbarschaftshaus Tümpelgarten oder in Kursen wie „Mama lernt Deutsch“.

Das Motto lautete: Alle Kanäle in der Stadt nutzen, um die neuen und speziell auf Migrantinnen abgestimmten sportiven Angebote der ortsansässigen Turnvereine bekannt zu machen. Die Turner seien für die Mitwirkung beim Thema Integration von Frauen  besonders prädestiniert, betonte Rolf Dieter Beinhoff, der Präsident des Hessischen Turnverbandes. Schließlich sei der DTB derjenige Spitzenverband mit dem höchsten Frauenanteil. Allein im hessischen Verband seien rund 70 Prozent der Mitglieder weiblich. Zudem verfügten die Turner allerorts über Vereine sowie über ausreichend qualifizierte Übungsleiterinnen. Damit  könnte garantiert  werden, dass bei den Übungseinheiten mit Migrantinnen „die Frauen unter sich blieben“. Überhaupt sei es wichtig, bei diesem Projekt die vermeintlichen Kleinigkeiten wie geschlossene Trainingsräumlichkeiten, Fenster mit Vorhängen und funktionierende Jalousien zu denken, damit die Bereitschaft der Frauen und Mädchen nicht schon an äußeren Bedingungen scheitere.

Hindernisse, die es gilt, von vornherein aus dem Weg zu räumen, erklärte Ridder-Melchers. Nur so sei es möglich, den Frauen und Mädchen die viel zu oft fehlenden Freizeitkontakte zu ermöglichen und sie über den Sport aus der sozialen Isolation herauszuführen. Sei es nun in Gestalt separater Gruppen, wie von den Turnern in Hanau angedacht, oder in gemischten Kursen mit einheimischen deutschen Frauen und Mädchen, die selbstverständlich ebenfalls denkbar seien.

Olympiasiegerin Anna Dogonadze rät: Angebote prüfen und in einen Verein eintreten

Letztere Version sei im Grunde genommen die erstrebenswertere, gibt die DOSB-Integrationsbeauftragte Anna Dogonadze zu bedenken. Die Trampolin-Olympiasiegerin ist eine vehemente Verfechterin des Weges, Frauen und Mädchen aus verschiedenen Erdkreisen und Kulturen über den Sport zusammenzuführen und sie zuguterletzt für die Vereine zu gewinnen und im optimalen Fall sogar zu Übungsleiterinnen auszubilden. In Hanau machte die gebürtige Georgierin allen Beteiligten vor Ort Mut, indem sie kurz ihren eigenen Weg skizzierte. Vor über zehn Jahren ohne sportliche Ambitionen der Liebe wegen nach Deutschland gekommen, besann sie sich damals in Hannover alsbald ihrer Lieblingsportart, die sie zuhause betrieben hatte. Heute ist sie nicht nur glücklich und froh, dass ihr sportliches Comeback in der Wahlheimat ungeahnte leistungssportliche Höhenflüge mit sich brachte, sondern dass sie auf diese Weise vor allem die deutsche Sprache erlernte, soziale Kontakte knüpfen konnte und „lernte, mich in Deutschland zu orientieren“. Frauen und Mädchen, die in einer ähnlichen Situation sind wie sie damals, empfiehlt Anna Dogonadze: „Prüft die sportlichen Angebote der Vereine und werdet dort Mitglied! Das kann nur hilfreich sein.“

Zusatzangebote in Deutsch, Gesundheitserziehung und Radfahren

Um ihre integrative Wirkung noch zu verstärken, sind die Angebote der Vereine in Hanau keinesfalls auf das Sportive beschränkt. Auf diese Weise wird dem Anspruch des Projekts „Bewegung und Gesundheit - mehr Migrantinnen für den Sport“ Genüge getan, in dem sämtliche Kurse mit zusätzlichen sinnvollen  Leistungen verbunden und verwoben sein müssen. „Dieses Zusatzangebot ist zwingend vorgeschrieben. Es ist unabdingbar und macht eine neue, bisher nicht gekannte Qualität dieses Projekts aus“, erläutert Ridder-Melchers die griffige Integrations-Formel „Sport plus X“. Wobei das „X“ für ganz verschiedene Offerten stehen kann, in Hanau sind es etwa Deutsch- und Gesundheitskurse für die Frauen, während sich die Teenager zusätzlich zum Dance-Part etwa Kurse in Gewaltprävention und Bewerbungstraining wünschten. Auch das Fahrradfahren würden die Migrantinnen gern nebenher erlernen, um ihre täglichen Besorgungen für die Familie bequemer erledigen zu können. Auch dieser Wunsch ist ein Ergebnis aus den vorbereitenden Gesprächen in den Nachbarschafts- und Stadtteilzentren und lässt darauf hoffen, dass Trainerin Saskia Rust am kommenden Freitagvormittag im Übungsraum bestimmt nicht bleiben wird.

Neben dem DTB sind DJJV, DLRG, LSVBW und die Berliner Sportjugend im Boot

Wie sich DTB in Kooperation mit den drei Turn-Vereinen in Hanau und einem weiteren in Dreieich in das Gesamtprojekt einbringt, so sind außerdem der Deutsche Ju-Jutsu-Verband (DJJV), die Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG), der Landessportverband  Baden-Württemberg (LSV B-W) sowie die Sportjugend Berlin mit von der Partie. Auch diese vier Kooperationspartner haben sich – adäquat zum DTB in Hessen – an verschiedenen Standorten jeweils eine Handvoll ihrer Vereine oder Mitgliedsorganisationen ausgeguckt, die das Gesamtprojekt an der Basis praktisch in Gang bringen und möglichst viele Migrantinnen dafür begeistern sollen.

Der DJJV verknüpft seine Projekte in Berlin, Hamburg und Todtglüsingen im Landkreis Harburg in Niedersachsen mit Aufklärungsarbeit zum Beispiel in Bezug auf Sexualität und Fragen rund um die Schwangerschaft, mit Kompetenztraining (Bewerbungstraining, Berufsvorbereitung) und Informationen rund um die Gesundheit von Kindern (Tipps für Impfungen und Vorsorgeuntersuchungen). So läuft beim Budo-Club Berlin seit dem 1. September ein Kurs zur Selbstverteidigung von Frauen kombiniert mit zusätzlichen Informationen über die Gleichstellung der Frau und einer Schuldnerberatung. Bei der DLRG ist in Waldshut-Tiengen ein erster Kurs unter dem Titel „Fischle“ (Schwimmkurs für internationale Mutter-Kind-Gruppe) in Kombination mit Spielen, Basteln, Kochen und dem Ziel, spielend die Sprache lernen, bereits zu Ende gegangen. Gerade begonnen haben bei der DLRG in Wolfsburg zwei Schwimm-Kurse für Mädchen bzw. türkische Frauen jeweils in Kombination mit einem Erste-Hilfe-Lehrgang.

Der LSV Baden-Württemberg kooperiert beispielsweise mit dem TB Bad Cannstatt, der die Kurse Gymmix und Aqua-Fitness in der Ergänzung mit Sprachkursen anbietet. Beim TV 89 Zuffenhausen/ SV Rot steht Dance-Aerobic in Kombination mit einer  Babysitterausbildung auf dem Programm und beim  TB Untertürkheim 1888/99 ein Mixed aus Wassergymnastik und einem Kochkurs. Bei der Sportjugend in Berlin schließlich unterbreitet beispielsweise der Erste Berliner Judo Club 1922 ein Angebot, das den Judosport und die Arbeit in einer schuleigenen Holzwerkstatt miteinander verbindet. Die einzelnen Kursangebote können sämtlich und ganz konkret im Internet eingesehen werden.

Bundesgesundheitsministerium unterstützt das Projekt

Unterstützt wird das Gesamtprojekt, das insgesamt auf 2,5 Jahre angelegt ist, vom Bundesgesundheitsministerium. Die Vorlaufphase begann im Herbst 2008, spätestens jetzt beginnt in Hanau wie in den anderen Städten die ganz praktische Arbeit in den verschiedenen Kursen, der auf etwa anderthalb Jahre angelegt sind. Eine Phase, die den Mädchen und Frauen mit Migrationshintergrund nicht nur eine ganze Reihe von Chancen und Möglichkeiten zur aktiven Integration über „Sport plus X“ einräumt, sondern dem DOSB als Initiator und Ideengeber sowie seinen Projektpartnern DTB, DJJV, DLRG, LSV Baden-Württemberg und SJ Berlin zugleich eine Fülle von Erfahrungen eintragen wird.

Alle Informationen im Internet unter der Adresse: Öffnet einen internen Link im aktuellen Fensterwww.migrantinnen.dosb.de


  • DOSB-Vizepräsidentin Ilse Ridder-Melchers, Oberbürgermeister von Hanau Herr Kaminsky, DTB-Vizepräsidentin Inge Voltmann-Hummes, Integrationsbotschafterin Anna Dogonadze,  HTV Präsident Rolf-Dieter Beinhoff und Sozialdezernent Axel Weiss-Thiel mit Übungsleiterinnen in Hanau. Foto: Valentina Hallberg
    DOSB-Vizepräsidentin Ilse Ridder-Melchers, Oberbürgermeister von Hanau Herr Kaminsky, DTB-Vizepräsidentin Inge Voltmann-Hummes, Integrationsbotschafterin Anna Dogonadze, HTV Präsident Rolf-Dieter Beinhoff und Sozialdezernent Axel Weiss-Thiel mit Übungsleiterinnen in Hanau. Foto: Valentina Hallberg