Frauenvollversammlung des Landessportbundes Hessen

Von der Matte zur Platte - oder die Frage "Wer ist hier benachteiligt?"

Frauenvollversammlung des LA-FiS mit starkem, aktiven Part

 

"Barrieren abbauen", so lautete das Motto der diesjährigen Frauenvollversammlung, die am 9. November in der Sportschule Frankfurt stattfand. Und die Anwesenden setzten dieses Thema in vollem Maße um. 
Der Vormittag wurde von den Mitgliedern des Landesausschuss Frauen im Sport (LA-FiS) genutzt, um über ihre Arbeit im vergangenen Jahr zu berichten und die Höhepunkte Revue passieren zu lassen. Darunter die erfolgreichen Workshops, die von Waltraud Born mit viel Engagement aus dem geplanten Mentoring-Projekt ausgekoppelt wurden. Das Engagement im Bereich Krebsnachsorge (federführend Sigrid Blaich-Horn). Und der rege Austausch mit Delegierten aus anderen Sportverbänden und Gremien (Schwerpunkte von Beate Schmidt, Brigitte Senftleben und Astrid Cornel). Iris Köppler gab eine Übersicht über die Veranstaltungsreihe 2014. Und einen Streifzug durch die Öffentlichkeitsarbeit 2013 des LA-FiS brachte Tonja Bröder.

Das Augenmerk - gestatten Sie dieses Wortspiel - lag mittags auf den Akteuren des praktischen Teils. Die blinden Nachwuchs-Judoka Tabea und Schugga waren zusammen mit ihrem Trainer Markus Zaumbrecher (Blau Gelb Marburg) zu Gast und zeigten eindrucksvoll, wie Judo trotz Sehbehinderung aktiv ausgeübt werden kann. Thorsten Schwinn, Viertplatzierter im Tischtennis-Team bei den Paralympics in London 2012, riss in einem lebendigen Gespräch die Zuhörer in seinen Bann und gab einbeinig eine Kostprobe seines sportlichen Könnens.

„Ich kenne die Straßenlaternen mit Namen“
Es waren Fragen zu alltäglichen Dingen des Lebens, die die Veranstaltung so interessant machten. "Wie orientierst Du Dich auf der Straße?", so eine Teilnehmerin. Und es waren die humorigen Antworten der Jugendlichen, die das Ganze so lebendig machten. "Es ist die Routine. Mittlerweile kenne ich die Straßenlaternen mit Namen", so Tabea. Schugga gab sich auf die Frage nach seinen sportlichen Erfolgen selbstbewusst. "Ich bin glaube ich nicht so schlecht", was sein Trainer Markus Zaumbrecher damit ergänzte "Er ist derzeit der Beste seiner Klasse."

Da die Konkurrenz unter den Sehbehinderten deutschlandweit recht überschaubar ist, ist Markus Zaumbrecher auch in seiner Funktion als Landestrainer neue Wege gegangen. Er hat es im Dialog mit den Kampfrichtern geschafft, dass sich seine Schützlinge auf regionalen Wettkämpfen mit sehenden Judokas messen können. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Schließlich ist Judo eine Sportart, die zur Orientierung erstmal das Auge benötigt. Wo befindet der Gegner, wie bewegt er sich, wo ist die Wettkampffläche zu Ende? Steht der Griff, sprich halten sich beide Judoka am Revers des Anzugs, so ist Judo hervorragend geeignet, von Sehbehinderten ausgeübt zu werden. Denn beim Judo kommt es stark auf das Körpergefühl an. Und das ist bei Blinden zweifelsohne gut ausgeprägt. So ist das einzige Zugeständnis beim Aufeinandertreffen von blinden und sehenden Judoka, dass der Kampf beginnt, wenn beide den Anzug des Partners gegriffen haben.

Mittlerweile ist das Team von Markus Zaumbrecher so erfolgreich bei den Wettkämpfen, dass bei den Nichtbehinderten ein wenig Neid auf deren Erfolge aufkommt. "Es ist mir ein Anliegen, Barrieren zwischen den Sportlern abzubauen", so der Landestrainer, "und ich erlebe im täglichen Training zwischen den Judoka, mit welcher Selbstverständlichkeit das gemeinsame Training funktioniert. Tabea findet immer unaufgefordert einen Partner, der z.B. beim Aufwärmen gemeinsam die Runden dreht und Zusammenstösse verhindert."

Dass die Orientierung entlang der Mattengrenze für die beiden Nachwuchsjudoka hervorragend funktioniert, zeigten sie in einer anschließenden, eindrucksvollen Vorführung.

Ein „T“ ist nicht gleich ein „T“
"Wie erklären Sie die Übungen?", wollte eine Dame wissen. "Mit vielen Worten und Beschreibungen, doch ist nicht alles selbsterklärend. Wenn ich die Standwaage damit beschreiben würde, dass sie wie ein "Schreib T" aussieht, könnten Blinde nichts damit anfangen. Denn in der Braille-Schrift sieht ein „T“ nun mal anders aus..." "Wenn unser Trainer mit Worten gar nicht mehr weiterkommt, frieren wir die Bewegung ein und machen ein Standbild", so Tabea. „Dann taste ich die Körper ab und weiß, wie die Abläufe sind.“
Wie gut, dass beim Judo enger Körperkontakt per se unabdingbar ist.

Von der Matte zur Platte
Dass Thorsten Schwinn auch einbeinig fest im Leben steht, zeigte er uns beim Tischtennis-Training eindrucksvoll. Im Alter von sechs Jahren verlor er krankheitsbedingt sein rechtes Bein. Viele Jahre probierte er alle erdenklichen Sportarten aus, bis er mit 14 Jahren zum Tischtennis kam. Dass er Anfangs kein guter Spieler war, erzählt Thorsten Schwinn nicht ohne Stolz. Er hat es seinem Ehrgeiz zu verdanken, dass er heute auf Platz fünf der Weltrangliste wortwörtlich steht. Früher mieden ihn Vereinskollegen als Trainingspartner. Aber nicht, wie er sagt, wegen seiner Behinderung. Sondern, weil er so grottenschlecht spielte. Heute ist er es, der sich seine Gegenüber aussuchen kann.

Sein Markenzeichen ist, statt Prothese mit einer Krücke seine Standfestigkeit zu finden. Jahrzehntelanges Training und Feilen an der Technik haben ihn dahin gebracht, wo er heute ist. „Ich lebe mit meiner Krücke, als wäre es mein zweites Bein“, so Schwinn. Und wenn man ihn beobachtet, fällt gar nicht auf, dass er ein Bein weniger hat. Flink wie ein Wiesel bewegt er sich hinter der Tischtennisplatte, hechtet den Bällen hinterher, als wäre es das Leichteste auf der Welt. „Tischtennis ist bei unserer Behinderung technisch viel feiner. Ich muss gezielter und durchdachter spielen, die Schwächen meines Gegner genau analysieren und ausnutzen.“ Auch er misst sich mangels Konkurrenz gerne mit Nichtbehinderten. „Haben Ihre Gegner ohne Handicap nicht Skrupel, die Bälle in entfernte Winkel zu spielen, damit Sie nicht dran kommen?“, so die Frage einer Teilnehmerin. „Das ist sein Problem, nicht meins“, so die Antwort von Thorsten Schwinn. „Je mehr moralische Bedenken mein Gegenüber damit hat, mich auszuspielen, umso leichter wird es für mich. Wer mich als vollwertigen Tischtennisspieler nicht ernst nimmt, wird schnell merken, wer die Punkte macht.“

Zwei Schuhe sind einer zuviel
Dass die Lobby behinderter Sportler bei allen Erfolgen nicht ausreichend groß ist, musste eine weitere Dame aus der Runde erfahren. Auf die Frage „Sie benötigen ja nur einen linken Schuh. Gehen die Hersteller darauf ein oder müssen Sie zwei Schuhe kaufen und einen wegschmeißen?“, erfuhr sie: „Nein, egal welche Art der Behinderung man hat. Alles wird für „Otto Normal“ hergestellt. In meinem Fall heißt das: zwei bezahlen, einen tragen. Es gibt zwar auch Internetplattformen, wo Fußamputierte Schuhe anbieten oder tauschen können, allerdings ist das sehr zeitaufwendig und Glücksache. Jemanden zu finden, der genau dieses Modell in dieser Größe benötigt. Und dann auch noch ausgerechnet den rechten Schuh…..“

Als die Frage auf die Bezeichnung „Inklusion“ kam, wurde Thorsten Schwinn nachdenklich. Ihm persönlich gefällt das Wort überhaupt nicht. Doch findet auch er es schwer, eine passende Formulierung für Menschen mit Handicap zu finden. „Vielleicht“, gab er in die Runde, „findet sich in diesem Rahmen ja Gelegenheit, einen neuen Namen zu kreieren?“

Wer ist denn hier behindert?
Dass es möglicherweise gar keine extra Formulierung braucht, zeigte der Abschluss der Veranstaltung. Als die blinde Tabea gegen den stark sehbehinderten Schugga Tischtennis spielten. Und sich so sicher und selbstverständlich an der Platte bewegten. Da war die Welt normal.

 

 

 

Fotos: SiH24_FVVLAFiS1
zeigt Waltraud Nüsser (l.) und Thorsten Schwinn (r.) beim Spiel.
BU: Wer es nicht weiß, merkt nicht, dass Thorsten Schwinn (r.) einbeinig Tischtennis spielt.
Fotograf: Tonja Bröder


Fotos: SiH24_FVVLAFiS2
zeigt Tabea (l., blind) und Schugga (r., stark sehbehindert) mit Kirsten Witte-Abe (Zuständig für Chancengleichheit beim DOSB) als Schiedsrichterin
BU: Kirsten Witte-Abe, Zuständig für Chancegleichheit beim DOSB, fungiert für die beiden blinden Spieler als Schiedsrichterin
Fotograf: Tonja Bröder

 

Tonja Bröder
18.11.2013