Was tun bei sexualisierten Grenzüberschreitungen?

Was tun bei sexualisierten Grenzüberschreitungen?

Flyer "Was definieren wir als sexualisierte Grenzüberschreitung" vor grüner Stadiontribüne bei Werder Bremen.
Flyer für das Stadion - Copyright SV Werder Bremen

Erfahrungsbericht von Werder Bremen

In diesem #longread-Artikel geben wir Einblicke in die Bemühungen des SV Werder Bremen, sexualisierten Grenzüberschreitungen im Sport entgegenzuwirken. Der Erfahrungsbericht zeigt auf, wie die Fanszene wichtige Impulse setzt, um Vorfälle im Stadion und im Verein zu unterbinden, und welche Herausforderungen es dabei zu überwinden gilt.

Dominique ist Fußballfan mit Leidenschaft. Seit 16 Jahren geht sie regelmäßig zum SV Werder Bremen und die Liebe zum Fußball und zum Verein ist für sie eine Liebe für das Leben. Eine Liebe mit emotionalen Grenzbereichen, fordernd und belohnend gleichermaßen.

„Hier sollten Alter, Geschlecht, Nationalität und soziale Verhältnisse nicht im Vordergrund stehen. Man kann beobachten, wie unterschiedliche Menschen miteinander kooperieren und zusammenhalten, auch wenn man sich gar nicht untereinander kennt“, findet sie. 

Fast alle Frauen beim Fußball haben eine Grenzüberschreitung erlebt

Sie führt fort: „Dennoch hat der Fußball leider das Klischee inne, dass er eine Männerdomäne ist. So kommt es nicht selten auch zu sexistischen und queerfeindlichen Äußerungen. Statistiken belegen, dass fast alle Frauen beim Fußball schon mindestens einmal in ihrem Leben eine Form von sexualisierter Grenzüberschreitung erlebt haben. Der enge Kontakt im Stadion bringt damit noch eine ganze andere Auswirkung mit sich und es ist teilweise kaum möglich, ohne Berührungen und Körperkontakt aneinander vorbeizugehen.“

Für Dominique sind Grenzüberschreitungen in allen Bereichen der Gesellschaft fehl am Platz, insbesondere im Stadion und beim Fußball. Bedauernd stellt sie fest: „Doch leider machen diese Dinge auch hier nicht Halt“.

Wie die Fanszene den Vorstand überzeugte und Lösungen aufzeigt

Es sind Fans wie Dominique, die sich vor zweieinhalb Jahren mit dem SV Werder Bremen zusammenschließen, um den Arbeitskreis Awareness zu gründen. Viele von ihnen kommen aus der weiblichen Ultra-Szene. Während Awareness-Arbeit in Club- und Festivalkulturen besser bekannt ist, gewinnt sie zunehmend im Zuschauer*innen-Sport an Bedeutung. Es geht dabei um Achtsamkeit, Schutz und einen besonderen, parteilichen Blick auf Betroffene von sexualisierter Gewalt, Diskriminierung und Ausschlüssen. Mit diesem Anliegen wandte sich der neue Arbeitskreis Awareness auch an die Führungsebene des SV Werder Bremen.

Dabei wurden das Präsidium, sowie Vertreter*innen aus der Medien- und Fanabteilung, gezielt zu Gesprächen eingeladen. Der Arbeitskreis zeigte den dringlichen Bedarf auf und präsentierte Lösungswege. Dazu gehörten unter anderem abgegrenzte Rückzugsorte im Stadion, eigens dafür angestellte Ansprechpersonen und leicht zugängliche Kontaktmöglichkeiten über Ordnungs- und Cateringkräfte.

Auf dem Bild sieht man Arne Scholz, einen grauen Werder Bremen Kapuzenpulli tragend, mit dem Weserstadion im Hintergrund.

Arne Scholz, Mitarbeiter im Bereich Fankultur und Antidiskriminierung bei Werder Bremen, erinnert sich daran:

„Sie haben das damals so gut vorgestellt, dass Werder Bremen eigentlich gar nicht so viele Optionen hatte, außer zu sagen, gut, dann machen wir jetzt etwas.“

Findet professionelle Partner*innen für euer Team

Zusammen mit dem Arbeitskreis Awareness hat die Abteilung Fankultur und Anti-Diskriminierung im Anschluss ein Ehrenamtsteam aufgestellt, sowie ein Awareness-Konzept für das Stadion entwickelt und umgesetzt. Dabei setzen sie auf Expertise des Notruf Bremens. Das ehrenamtliche Awareness-Team wird speziell geschult und erhält Supervision von der Fachberatungsstelle.

Diese Professionalität ist laut Arne Scholz entscheidend, um einen guten Kontakt zu den Betroffenen herstellen und nachhaltig zu arbeiten zu können. „Wir sprechen viel mit anderen Vereinen darüber, wie Konzepte bei ihnen laufen oder wenn sie demnächst an den Start gehen. Dabei ist immer ein wichtiger Punkt: Schaut, dass ihr professionelle Partner*innen findet, die auch für das Team da sein können.“

Sprechblase mit der frage "Kennst du MIKA?" auf pinkem Hintergrund. Daneben steht "Fühlst du dich bedrängt, belästigt oder bedroht? Dein Codewort für Hilfe. Frag unser Personal".

„Kennst du MIKA?“ - Betroffene werden unterstützt

Als sie mit dem Notruf Bremen anfingen zu arbeiten, waren diese gerade in der Entwicklung des stadtweiten Konzeptes „Kennst du MIKA?“. Somit wurde der SV Werder Bremen auch der erste große Partner und setzte es im Weser Stadion um: Menschen, die sich dort bedrängt, bedroht oder belästigt fühlen können niedrigschwellig Hilfe erhalten, wenn sie sich mit dem Codewort „Kennst du MIKA?“ an Sicherheitspersonal und Cateringkräfte wenden.

Die betroffene Person wird dann von einer Sicherheitskraft abgeholt und zu einem Abholpunkt gebracht, zu dem auch das Awareness-Team kommt und Unterstützung anbietet. Die Meldung erfolgt ganz ohne Nachfragen, denn die eigene Gefühlswelt soll hierbei nicht hinterfragt oder bewertet werden. Mit dem Awareness-Konzept wurde somit eine Struktur erstellt, die Betroffene auffangen soll.

Das Ziel: Früher ansetzen und das Grundgefühl im Stadion verändern

Doch während des Prozesses kamen Arne Scholz und das Team immer wieder an den Punkt, an dem sie merkten, dass sie noch früher ansetzen müssen. Mit den Awareness-Strukturen haben sie etwas um reaktiv zu handeln, wenn Übergriffe bereits passiert sind und Personen sexualisierte Gewalt, aber auch andere Grenzüberschreitungen, erlebt haben. „Uns fehlte dahingegen etwas, um aktiv auf die Stimmung bei uns im Stadion einzuwirken. Wir wollten das Grundgefühl ein Stück weit verändern, so dass Menschen nicht Sorge haben müssen, dass Grenzüberschreitungen am Spieltag überhaupt passieren“, so Arne Scholz.

Gemeinsam mit der Sicherheitsabteilung wurde ihnen schnell klar, dass der erste Schritt dahin darin besteht, auf einer Arbeitsebene festzulegen, wie sie sexualisierte Grenzüberschreitung für sich definieren. „Das ist notwendig, um eine Grundlage für die Einordnung von Spieltags-Situationen durch die Ordnungskräfte zu haben und um angemessen darauf reagieren zu können“, erläutert er.  Ihm ist dabei wichtig zu betonen, dass es eine Arbeitsdefinition ist und natürlich jede Person ihre Grenzen und somit auch die Grenzüberschreitung selbst definiert.

Arbeitsdefinition sexualisierte Grenzüberschreitung des SV Werder Bremen

Die Arbeitsdefinition wurde im Februar 2023 von Werder Bremen veröffentlicht und als Flyer im Stadion ausgelegt. Dieser geht neben der Definition auf die Hintergründe und den Prozess ein und ist zugleich ein Haltungspapier von Werder Bremen.

Entstanden ist dabei die folgende Definition:

Art der sexualisierten Grenzüberschreitung

Beschreibung

Verbal

 
  • sexuell anzügliche Bemerkungen und Witze
  • aufdringliche und beleidigende Kommentare über Kleidung, das Aussehen oder das Privatleben
  • sexuell zweideutige Kommentare
  • Fragen mit sexuellem Inhalt, z.B. zum Privatleben oder zur Intimsphäre
  • Aufforderungen zu intimen oder sexuellen Handlungen, z.B. „Setz dich auf meinen Schoß!“
  • sexualisierte oder unangemessene Einladungen
 

Non-verbal

 
  • aufdringliches oder einschüchterndes Starren oder anzügliche Blicke
  • Hinterherpfeifen
  • heimliches/ungefragtes Fotografieren
  • unangemessene und aufdringliche Annäherungsversuche, auch in sozialen Netzwerken oder auf anderen Wegen
  • Präsentieren oder Verbreiten pornografischen Materials
  • unsittliches Entblößen
 

Physisch

 
  • jede unerwünschte Berührung (Tätscheln, Streicheln, Kneifen, Umarmen, Küssen), auch wenn die Berührung scheinbar zufällig geschieht
  • wiederholte körperliche Annäherung, wiederholtes Herandrängeln, Versperren von Wegen, wiederholt die angemessene körperliche Distanz nicht wahren
  • körperliche Gewalt sowie jede Form sexualisierter Nötigung bis hin zu Vergewaltigung
 

Angelehnt an Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2021: 5

Grenzen sind unterschiedlich und werden von jedem einzelnen bestimmt

Die Arbeitsdefinition soll nicht nur verwendet werden, um gegen grenzüberschreitende Personen tätig zu werden. Werder Bremen möchte damit eine Sensibilisierung schaffen.

Auch Dominique ist eine der Personen, die sich ehrenamtlich im Awareness-Team engagiert. Sie erläutert: „Die Grenzen sind für jeden unterschiedlich und können nur von jedem einzelnen bestimmt werden. Es ist daher umso wichtiger, eine Arbeitsdefinition zu haben und den Besucher*innen damit eine Handlungshilfe an die Hand zu geben, um die eigenen Grenzen zu erkennen und zu definieren.“

Dominique erlebt in ihren Einsätzen für das Awareness-Team leider immer wieder, dass sexualisierte Grenzüberschreitungen im Fußballstadion für einige normalisiert sind, so dass sie der Ansicht sind, dass diese quasi “dazugehören” und man Vorfälle über sich „ergehen lassen“ muss. Damit egalisieren sie diese teilweise, findet sie. Betroffene müssen sich Äußerungen aussetzen wie: „Das war doch nur ein Kompliment, hab dich nicht so!“.

Es komme unter anderem auch vor, dass Fans mit völligem Unverständnis darauf reagieren, dass diese Themen so offen angesprochen werden. Dies zeige sich bei Sprüchen, wie beispielweise „Ich bin ein Mann, sowas kann mir gar nicht passieren“. „Dabei können Männer gleichermaßen von sexualisierter Gewalt und Grenzüberschreitungen betroffen sein, wenngleich sie in der Gesellschaft jedoch wenig Unterstützung erhalten“, führt sie weiter aus.

Arne Scholz ergänzt: „Natürlich gibt es auch immer wieder einige, die dann ein bisschen anfangen zu grummeln und bei denen eine Sensibilisierung auch erstmal stattfinden muss. Aber wenn man mit Personen darüber spricht, merkt man, dass ein Prozess stattfindet. Da bewegt sich etwas. Das geht dann von „naja, haben wir sowas überhaupt im Stadion und existiert das bei uns?“ zu „ich bin neulich bei uns durch die Logen gegangen, du glaubst gar nicht, was ich alles gesehen habe“. Das freut uns total, weil du merkst, dass sich die Wahrnehmung dieser Personen verändert.“

Zitat auf rotem Hintergrund: "Jeder Fall von Grenzüberschreitung ist individuell und es gibt kein allgemeines Rezept zum Umgang" (Dominique, Anhängerin SV Werder Bremen und Mitglied des Awareness-Teams)

Herausfordernde Schnittstelle zwischen Awareness-Arbeit und Haltung zeigen

In der Praxis lassen sich die betroffenenzentrierte Awareness-Arbeit und der Anspruch des Vereines Haltung zu zeigen nicht immer leicht vereinen. Denn der Verein sieht sich in der Verantwortung klarzustellen, dass es Sachen gibt, die nicht geduldet werden und bei denen sie in weiteren Schritten sozusagen ins Hausrecht übergehen.

Arne Scholz erzählt von der Schwierigkeit den Mittelweg zu finden und dass es letztendlich dahinführt, dass sie wirklich nur mit einer Arbeitsdefinition arbeiten können, in dem sie sagen, dass Schritte unabhängig von dem Betroffenenzentrierten eingeleitet werden. Denn letztendlich geht es auch um rechtlich Fragen. Was sind dies für Situationen?

Zum Beispiel wenn am Spieltag eine Person auf Ordnungskräfte zukommt mit dem Anliegen „Hey ich fühle mich unwohl, dieser Typ hört nicht auf mich anzugucken“, erklärt Arne Scholz. „Das nehmen wir natürlich ernst, können aber schwierig sagen, dass eine Person deswegen das Stadion verlassen muss. Das hätte juristisch kaum bestand.“

In diesen Situationen versuchen sie zu sensibilisieren und zu verwarnen. Das bedeutet auf die grenzüberschreitende Person zuzugehen, auf die Problematik des Verhaltens hinzuweisen und die Person zu bitten das grenzüberschreitende Verhalten zu unterlassen. Sollte die Person dann trotzdem mehrfach zuwiderhandeln, werden weitere Schritte eingeleitet.

Das zweite von ihm genannte Beispiel handelt von Situationen, die klar der Haltung des Vereines widersprechen und in denen der Verein daher die grenzüberschreitende Person des Stadions verweisen würde. In denen die betroffene Person allerdings selbst sagt, dass sie dies nicht möchte. Es gibt laut Arne Scholz viele valide und gute Gründe, warum Personen sagen, dass sie keinen Nachteil für die grenzüberschreitende Person wollen, zum Beispiel auf Grund von sozialen Beziehungen. Diese Spannung zwischen dem Respekt gegenüber dem Bedürfnis der betroffenen Person und den Grundlagen, die sie als Verein haben und für richtig empfinden, stelle eine Herausforderung dar.

Als SV Werder Bremen versuchen sie es potenziell kommunikativ aufzulösen. Zum Beispiel in dem sie auf die Person zugehen und sagen, dass sie den Wunsch respektieren, doch als Verein die grenzüberschreitende Person jetzt des Stadions verweisen, weil sie sich in einer Weise verhalten hat, die für den Verein nicht akzeptabel ist und der Stadionordnung widerspricht.

Arne Scholz räumt ein, dass dies nicht immer leicht ist: „Man muss an der Stelle von Fall zu Fall schauen, wie eine gute Lösung zu finden ist. Wenn man sich mit diesen Themen beschäftigt, wird man mit solchen Aufgaben konfrontiert.“ Auch Dominique findet, dass der Umgang mit sexualisierten Grenzüberschreitungen erst gelernt werden muss.

Zitat auf rotem Hintergrund: "Wir benötigen etwas um die Stimmung im Stadion nachhaltig zu verändern und ein Stückweit vorzuleben. Um zu zeigen, wie wir glauebn, dass ein Miteinander im Stadion und bei Werder Bremen im Verein aussehen sollte" (Arne Scholz, Mitarbeiter im Bereich Fankultur und Anti-Diskriminierung, SV Werder Bremen)

Von den Fans zum Arbeitsplatz – wie der Prozess in den Verein rein wirkt

Werder Bremen ist der erste Bundesligastandort der Männer, der eine Arbeitsdefinition zu sexualisierter Grenzüberschreitung eingeführt hat. Doch die Wirkung endet nicht am Stadiontor. Die neue Arbeitsdefinition gilt ebenso im Verein – sowohl in der Geschäftsstelle als auch im Leistungszentrum.

Wie es dazu kam, erklärt Arne Scholz: „Wir haben uns während dem Prozess gesagt, dass es für uns komisch klingt, wenn wir eine Arbeitsdefinition für das Stadion festschreiben und für den Rest von Werder Bremen ist es weiterhin möglich es auszuhandeln. Daher gab es von der Geschäftsführung schnell den Wunsch die Arbeitsdefinition, in der gleichen Form, für ganz Werder Bremen und alle Bereiche, die es letztendlich betrifft, anzuwenden. Wir benötigen etwas, um die Stimmung im Stadion nachhaltig zu verändern. Und um ein Stückweit vorzuleben, wie wir glauben, dass ein Miteinander im Stadion und bei Werder Bremen im Verein aussehen sollte.“

Dass es notwendig ist sexualisierte Grenzüberschreitungen unter Erwachsenen auch am Arbeitsplatz anzugehen, zeigen wissenschaftliche Studien. So stellt eine Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes aus dem Jahr 2019 fest, dass etwa jede elfte erwerbstätige Person im Zeitraum der vergangenen drei Jahre in Deutschland von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz betroffen war.

Für die Umsetzung am Arbeitsplatz und im Leistungszentrum hat Werder Bremen daher die Definition in den Leitlinien der Zusammenarbeit verankert und eine Veröffentlichung über das Intranet geschaltet, um alle bei Werder Bremen beschäftigte Personen darüber zu informieren. Derzeit erarbeiten sie als nächsten Schritt ein Konzept für die Einführung von speziell geschulten Vertrauensmitarbeiter*innen.

Die geschaffene Grundlage verpflichtet weitere Schritte zu gehen

„Wir haben jetzt eine Grundlage geschaffen, die uns auch verpflichtet die weiteren Schritte zu gehen und sicherzustellen, dass wir weiterhin dranbleiben. Zum einen daran, dass die Leute mehr davon Kenntnis erlangen und zum anderen dahin, dass wir gegen Vorfälle sexualisierter Grenzüberschreitung vorgehen“, so Arne Scholz.

Innerhalb der nächsten zwei Jahren möchte Arne Scholz die Arbeitsdefinition im Ordnungsdienst fest etabliert haben, so dass alle Einsatzkräfte am Spieltag sie kennen und eine gewisse Sensibilität für den Umgang mit sexualisierten Grenzüberschreitungen haben. Zudem soll es konkrete Handlungsanweisungen für den Ordnungsdienst geben, in denen Handlungsbeispiele zur Arbeitsdefinition aufgeführt werden. Er ist optimistisch, was dies angeht, da die Leitung der Sicherungsabteilung hier die Notwendigkeit sieht und eine wichtige Verbündete für das Ziel darstellt. Zukünftig soll die Arbeitsdefinition mit über das Ticketing ausgegeben werden, damit Zuschauer*innen vermehrt davon Kenntnis bekommen. Er resümiert: „Letztendlich bringt es uns nichts, wenn die Leute nichts davon wissen“.

Auch Dominique erhofft sich, dass mehr Menschen davon Kenntnis erlangen, insbesondere, dass sich noch mehr Betroffene an das Awareness-Team wenden und nicht allein sind: „Wir sind natürlich froh, wenn das Awareness-Team an Spieltagen nicht benötigt wird, dennoch befürchte ich, dass trotzdem Grenzüberschreitungen stattfinden, ohne, dass das Awareness-Team hinzugezogen wird. Ich würde gern mehr davon sehen, dass wir alle Besucher*innen erreichen und für dieses Thema sensibilisieren. Möglicherweise könnten auch Workshops, Vorträge und andere Infos zu sexualisierter Gewalt bzw. Grenzüberschreitungen angeboten werden – nicht nur für das Awareness-Team selbst – um eine präventive Auseinandersetzung zu ermöglichen.“

Wenn die Notwendigkeit erkannt wird, stehen die Mittel oftmals schnell zur Verfügung

Dass eine Umsetzung von Konzepten und Maßnahmen auch finanzieller und personeller Ressourcen bedarf, ist selbstverständlich. Bisher beschreibt Arne Scholz diese bei Werder Bremen als überschaubar. Die Awareness-Maßnahmen liefen anfangs über die SV Werder Bremen Stiftung und sind mittlerweile in das normale Sachbudget übernommen worden. Durch das ehrenamtliche Team und die Unterstützung des existierenden Hauptamtes halten sich die Kosten für personelle Ressourcen bisher in Grenzen: „Das ist gleichzeitig immer wieder ein Ärgernis, weil es natürlich auch eine Arbeit ist, welche die Personen ausüben und oftmals keine leichte, sondern eine sehr fordernde.“ Daher würde er gerne zukünftig das ehrenamtliche Team vergüten.

Letztendlich glaubt Arne Scholz, dass bei Werder Bremen und anderen Vereinen, wenn die Notwendigkeit des Handelns erkannt wird, oftmals die Mittel schnell zur Verfügung stehen. Gleichwohl ist er sich bewusst, dass sie als derzeitiger Erstligist aus einer privilegierten Sicht sprechen im Vergleich zu einem viertklassigen Verein, bei dem dies vermehrt auf das Ehrenamt zurückfällt. „Doch auf Fußballfanseite gibt es viele Fördertöpfe für solche Initiativen, die würde ich mir als Fan anschauen“, empfiehlt er.

Zitat auf rotem Hintergrund: "Für mich ist wichtig, dass die Arbeitsdefinition zur sexualisierten Grenzüberschreitung erarbeitet wurde und sich damit auch der Verantwortung gestellt wird" (Dominique, Anhängerin SV Werder Bremen und Mitglied des Awareness-Teams)

Als Verein sich langfristig der Verantwortung stellen

Mit dem Prozess möchte Werder Bremen langfristig erreichen, dass in allen Bereichen des Stadions die Stimmung sich nachhaltig verändert. Insbesondere Frauen, Lesben, Inter-, Non-binäre-, Trans*- und Agender-Personen (FLINTA*) sollen sich deutlich wohler fühlen.

Für Dominique, als langjähriger Fan, ist die Arbeitsdefinition ein bedeutender Schritt dahin:

„Der SV Werder Bremen setzt sich bereits seit vielen Jahren gegen Sexismus, Rassismus und Frauenhass ein. Daher ist es für mich wichtig, dass die Arbeitsdefinition zur sexualisierten Grenzüberschreitung erarbeitet wurde und sich damit auch der Verantwortung gestellt wird. Sich Vorfällen anzunehmen und über sexualisierte Grenzüberschreitungen zu sprechen, zeigt, dass hier verantwortungsvoll und präventiv damit umgangen wird.

Für die zukünftige Entwicklung ist mir daher wichtig, dass der SV Werder Bremen und das Awareness-Team weiter am Ball bleiben und sich weiterentwickeln. Des Weiteren wünsche ich mir natürlich, dass Aufklärung, Beratung und Unterstützung nicht mehr notwendig sind und wir irgendwann dahin kommen, dass alle achtsam und respektvoll miteinander umgehen.“

Es benötigt Handlungssicherheit in Vereinen, um Konzepte in die Breite zu tragen

Im Fußball gibt es neben dem SV Werder Bremen erst wenige weitere Bundesligastandorte, die in den letzten Jahren angefangen haben, Awareness-Teams aufzubauen. Um das Thema in die Breite zu tragen, benötigen Vereine Handlungssicherheit, denn oft fehlt noch das notwendige Wissen oder die Erfahrungen. Bestrebungen dahin gibt es. Das vom „Netzwerk gegen Sexismus und sexualisierte Gewalt“ im Jahr 2019 veröffentliche „Handlungskonzept gegen sexualisierte Gewalt im Zuschauer*Innen-Sport Fußball“ bietet eine gute Grundlage, um sich dem Themenfeld zu nähern.

Zudem führt seit 2020 die Kompetenzgruppe Fankulturen und Sport bezogene soziale Arbeit (KoFaS) ein Modellprojekt „Vielfalt im Stadion“ durch, dessen Ziel es ist, den Publikumssport Fußball zugänglicher zu machen, Barrieren abzubauen und – wenn nötig – für mehr Schutz zu sorgen. Die Ergebnisse aus den vier Modellstandorten sollen bis 2024 vorliegen und ein daraus entwickelter Leitfaden zur Fußballeuropameisterschaft der Männer (EURO 2024) an den Austragungsstandorten Anwendung finden.

Daneben sieht Arne Scholz auch die Deutsche Fußball Liga (DFL) als wichtigen potenziellen Akteur: „Die DFL könnte zum Beispiel bundesweite Konzepte oder Definitionen entwickeln, um zu zeigen, dass derartiges Verhalten nicht nur an einem Standort nicht geduldet wird, sondern in der ganzen Bundesliga nicht. Bei Vorgaben der DFL können Vereine zudem sagen, dass es ein Grundsatz ist an dieser Stelle, und sie insofern auch verpflichtet sind zur Umsetzung“, so Arne Scholz.

Wir können alle unseren Beitrag leisten

Es ist an der Zeit, sich mit von sexualisierten Grenzüberschreitungen Betroffenen solidarisch zu zeigen und Verantwortung zu übernehmen - ob im Stadion, am Arbeitsplatz oder auf dem Sportplatz. Der Erfahrungsbericht zeigt, dass Betroffene diese noch zu oft mit sich selbst ausmachen müssen.

Um eine Veränderung zu bewirken, ist es notwendig Ansätze zur Prävention und Intervention in die Breite zu tragen. Dafür müssen wir uns alle gemeinsam damit auseinandersetzen, was für einen Sport wir leben möchten und unseren Beitrag dazu leisten. Das fängt bereits damit an, mit offenen Augen und Ohren durch den Sport in all seinen Facetten zu gehen und die eigenen Verhaltensweisen zu reflektieren.

    Die Schritte bei Werder Bremen im Überblick

    Bereits umgesetzt:

    • Gründung eines Arbeitskreises Awareness (AK) aus der Fanszene
    • Der AK fordert und bekommt vom Verein Unterstützung durch die Führungsebene und das Hauptamt
    • Hinzuholen von fachlicher Expertise durch eine Beratungsstelle für Betroffene von sexualisierter Gewalt
    • Erstellung und Umsetzung eines Awareness-Konzeptes im Stadion
    • Entwicklung Arbeitsdefinition sexualisierte Grenzüberschreitung 
    • Verankerung der Arbeitsdefinition in den Leitlinien der Zusammenarbeit für Mitarbeitende
    • Kommunikation der Arbeitsdefinition an Mitarbeitende des Vereins, des Cateringservice sowie den Ordnungskräften
    • Kommunikation der Arbeitsdefinition an Fans und Außenstehende durch Social Media, Flyer und Infostände

    (Mögliche) nächste Schritte:

    • Erstellung einer Handlungsanweisung für Ordnungskräfte bei sexualisierten Grenzüberschreitungen
    • Weitere Schulungen für Ordnungskräfte sowie das ehrenamtliche Awareness-Team
    • Vergütung und weitere Professionalisierung des Awareness-Teams
    • Vertrauensmitarbeiter*innen-Konzept einführen
    • Workshops, Vorträge und Informationen zu sexualisierter Gewalt bzw. Grenzüberschreitungen