DOSB-Preis „Frauen und Sport“ (Teil 1)

Der Preis, den der DOSB in den Berufswettbewerben des Verbandes Deutscher Sportjournalisten (VDS) ausschreibt, stand in diesem Jahr unter dem Motto "Frauen und Sport".

Alesia Graf beim Training. Copyright: picture-alliance
Alesia Graf beim Training. Copyright: picture-alliance

Auch darin spiegelt sich die große Bedeutung wider, die der DOSB diesem Thema beimisst. Das Jahr 2009 hatte der Dachverband zum "Jahr der Frauen" erklärt. Unter dem Motto "Frauen gewinnen!" sollen aber auch künftig mehr Frauen zum Sport und in die Spitzengremien von Verbänden und Vereinen gebracht werden. Der vom DOSB geförderte VDS-Preis würdigte nun Beiträge, die in herausragender Weise beschreiben, was Frauen im Sport bewegen. Die  Texte der drei Preisträger werden in einer Serie vorgestellt.

Den mit 2.000 Euro dotierten ersten Preis gewann Jürgen Löhle, dessen Beitrag "Voll auf die Zwölf" in "Sonntag aktuell" erschien.

"Voll auf die Zwölf"

Die Stuttgarterin Alesia Graf steht weit oben. Von ihren 25 Profikämpfen hat die Weltmeisterin 24 gewonnen. Vor Kampf 26 will das Waisenkind aus Gomel aber noch seine Mutter suchen. Jürgen Löhle hat sie beim Training besucht.

Ihr Atmen klingt wie das letzte Stoßgebet eines Dampfkessels. "Paaaah", schreit Alesia Graf, aber das ist kein hysterisches Kieksen wie beim Tennis. "Paaah" klingt, als haue man mit voller Wucht eine Bratpfanne auf die Rückenlehne einer Ledercouch.

Die jungen Männer mit den starken Armen und den ernsten Mienen schauen interessiert von ihren Mukkimaschinen auf. Normalerweise ist es mittags ziemlich ruhig im Stuttgarter Sportstudio Jonny M Blue, der Boxring leer. Heute nicht. "Paaah, pa-pa-pa, paaah", donnert die junge Frau, die sich "The Tigress" (Tigerin) nennt und gerade Serien in die Handschuhe ihres Trainers drischt. Die Eisenbieger staunen, Heinz Schultz gibt kurze Kommandos. "Die Beine, denk an die Beine", fordert der Trainer. Graf ist konzentriert, alles im Blick. "Das muss so sein, denn wenn du auf die Handschuhe des Gegners schaust, weißt du erst sehr viel später, was mit dir passiert ist", erklärt Schultz. Alesia Graf ist eine gute Schülerin, von ihren 25 Profikämpfen hat die Profi-Weltmeisterin im Super-Fliegengewicht 24 gewonnen, den letzten im Juli dieses Jahres. Ihre Gegnerin Terri Lynn Cruz hat ihr dabei mit einem Schlag "voll auf die Zwölf" (Schultz) beidseits den Kiefer gebrochen - gewonnen hat die Amerikanerin trotzdem nicht. Im Januar ist der nächste Kampf, wahrscheinlich wieder gegen Miss Cruz.

14. Oktober 1980: In Gomel/Weißrussland wird Alesia Klimowitsch geboren. Ihre Mutter gibt das Kind sofort in ein Waisenhaus. Warum, weiß Alesia bis heute nicht. Waisenhäuser in Weißrussland sind keine Oasen für zarte Kinderseelen, aber immer noch besser als eine kaputte Familie. Sie ist noch keine sechs Jahre alt, als im 120 Kilometer entfernten Tschernobyl der Atomreaktor in die Luft fliegt. Alesia bekommt davon nichts mit, und die Menschen in Gomel haben zunächst keine Ahnung, dass 70 Prozent der Strahlenlast direkt auf sie niedergehen wird - als verseuchter Regen. Man schätzt heute, dass 400-mal mehr Radioaktivität frei wurde als bei der Bombe auf Hiroshima. "Wir wurden als Kinder immer wieder ins Ausland geschickt. Warum, hat uns keiner gesagt", erzählt sie. Erinnern kann sie sich aber noch an "riesige Pilze im Wald" und an den merkwürdigen, irgendwie harten "Geschmack" der Luft, wie sie sagt. Das sei übrigens vor zwei Jahren noch genauso gewesen, als sie das letzte Mal in der Heimat war.

"Die Beine", sagt Heinz Schultz, "sind das Entscheidende." Profiboxer schlagen aus dem ganzen Körper, wer unten fest steht, ist Amateur. Bevor Alesia Graf boxen darf, steht erst einmal Aufwärmen auf dem Programm. Armkreisen, Kopfdrehen, leichtes Traben. Die umgedrehte Kappe behält sie dabei immer auf. In den heißen sechs Wochen vor einem Kampf arbeitet die 29-Jährige bis zu 28 Stunden pro Woche, jetzt sind es gut zwei Stunden am Tag - die Fahrt mit dem Fahrrad ins Studio oder Saunabesuche nicht mitgerechnet. Weniger als 52,18 Kilo muss sie beim Kampf wiegen, gerade hat sie etwa zwei Kilo mehr.

"Das Waisenhaus war schon schwierig", sagt Alesia. Jammern will sie aber nicht. Auf keinen Fall, obwohl die Perspektiven in Gomel mager waren. Mit 16 schwanger werden oder abrutschen ins Milieu der Kleinkriminellen und Prostituierten. Sie hat es erlebt, gesehen, aber nicht für sich angenommen. Sie hat lieber gekämpft. "Im Waisenhaus überlebst du nur als Alphatier" sagt sie. Alesia Klimowitsch macht Abitur, obwohl sie als Waisenkind gehänselt wird. "Du wirst wie deine Mutter", haben sie gesagt. Auf keinen Fall, hat sie gedacht, obwohl sie gar nicht weiß, wie ihre Mutter ist. Nach dem Abi beginnt sie ein Studium. Ihr Ziel: weg aus Weißrussland. "Wir wurden als Kinder wegen Tschernobyl immer mal wieder ins Ausland gebracht. Da habe ich die andere Welt gesehen und wusste, da will ich hin." Sie war in den USA und in der Schweiz. Dort stellten Ärzte fest, dass sie ein Problem mit der Schilddrüse hat - wie so viele in der Umgebung von Tschernobyl. Es wurde nicht schlimmer, aber ob das für alle Zeiten gilt, weiß sie nicht. Es gibt keine verlässliche Prognosen. Auch heute noch nicht.

Heinz Schultz zieht Alesia die Tapes für die Hände an. Danach die Boxhandschuhe. Er hat eine Stoppuhr, die nach zwei Minuten läutet wie die Pausenglocke beim Kampf. Achtmal zwei Minuten Techniktraining im Ring stehen an. Der Fotograf packt die Wassersprühflasche wieder weg. Schweiß simulieren ist nicht nötig, Alesia schwitzt von allein. Schultz auch. Der 58-Jährige hätte sich nie träumen lassen, eine Frau zu trainieren. Aber sie hat ihn vor neun Jahren überzeugt. Dieser Wille, dieser Einsatz, diese Hingabe - er wollte es nur zwei Wochen ausprobieren und ist bis heute dabeigeblieben. Zwei Minuten können lang sein, Alesia haut sich rein. Wenn ihr die Kraft ausgeht, hört sie nicht auf, sondern boxt weiter. Und lacht, wie Jungs, die auf dem Schulhof Fußball spielen. Wieder eine schnelle Serie in die Handschuhe des Trainers. "Du musst deine Gegnerin nicht töten, nur besiegen", stöhnt Schultz, der zugibt, dass er seine 58 gegen die Tigerin manchmal spürt.

Warum Boxen? Es gibt so viele Sportarten? "Ich weiß nicht, vielleicht suche ich einfach nach etwas. Manchmal denke ich, Boxen ist wie verliebt sein. Da weiß man auch nicht, warum es so ist", antwortet sie. Eines ist aber sicher. Athletinnen wie Alesia Graf haben das Frauenboxen auf eine neue Stufe gehoben. Das ist nicht Kirmesprügeln, sondern Leistungssport. Und der kommt an. Über vier Millionen TV-Zuschauer schauten sich neulich im ZDF den Kampf zwischen Ina Menzer und der Holländerin Esther Schouten an. "So was macht mich stolz", sagt Graf. Nach sechsmal zwei Minuten saugt sie eine halbe Flasche Wasser leer. Schultz auch.

Mit 17 ist die Schule vorbei, Alesia auf sich allein gestellt. Von einem Tag auf den anderen. Sie studiert in Gomel Sport, jobbt nebenher für 50 US-Dollar im Monat. "Man sieht es dir an, wo du herkommst", sagt sie, "und man lässt es dich spüren." Sie will das nicht, aber für eine normale Jeans zur Verkleidung muss sie drei Monate hart sparen. "Da war keine Zukunft", erzählt sie, "ich habe mir gesagt - arbeiten und nichts haben, das will ich nicht." Über die Schweiz und Freiburg, wo sie in einer Zeitschrift zum ersten Mal Bilder der Boxerin Regina Halmich sieht, kommt sie 1999 nach Stuttgart. Sie lernt in einem Crash-Kurs Deutsch, wohnt im Pestalozziheim in der Olgastraße, direkt neben einem Sportstudio. Dort ist Heinz Schultz Geschäftsführer. So kommen die beiden zusammen. Schultz hielt nichts von boxenden Mädels, aber der Wille dieser eher zierlichen jungen Frau hat ihn beeindruckt. Er erkundigt sich, ob es in Stuttgart Amateurboxen für Frauen gibt und bekommt als Antwort: "Ja, die Weiber hauen sich jetzt auch bei uns". Schultz sagt: "Auf, lass uns Karriere machen." Geglaubt hat er das damals nicht, zumal Alesia zu Beginn böse Lehrgeld zahlen muss. Sie hat keine Erfahrung und "eher mit den Armen gefochten als geboxt." Sagt Schultz. Alesia träumt. Manchmal rennt sie die zwei Kilometer von der Olgastraße im Talkessel zum Fernsehturm hoch und fühlt sich wie Rocky.

Siebte Trainingsrunde. Krachend haut Alesia Graf eine Rechte raus. Alles passt, die Spannung im Körper, die Bewegung, die Wucht. "Mein Gott, was für ein Pfund", schwärmt Schultz, "einmal im Kampf so ein Ding und ich setzte mich sofort zur Ruhe." Alesia hört ihn nicht, aber die Eisenbieger schauen wieder her. Einer nickt langsam - die höchste Form der Anerkennung. Alesia muss sich auf den Rücken legen, die Beine leicht angewinkelt. Schultz lässt einen fetten Medizinball auf ihre Bauchmuskulatur fallen. Immer wieder. "Einer geht noch", ruft er. Alesia sagt erst nichts, dann lacht sie. Der Beobachter bekommt dabei Bauchschmerzen. Danach noch Sandsack und Schattenboxen mit Gewicht.

2009 ist Alesia Graf Weltmeisterin, hat einen Profivertrag bei Universum, die deutsche Staatsbürgerschaft, einen Ehemann und eine davon unabhängige Existenz. Alles richtig gemacht. Nur eines fehlt noch. Sie will endlich wissen, wo sie herkommt. "Ich habe meine Muter noch nie gesehen", sagt sie aber das brauche ich, um dieses Kapitel abzuschließen. Sie hat eine Adresse in Minsk, wo ihre Mutter heute leben soll. Noch vor Weihnachten will sie dahin fahren, sie wartet nur auf die Terminierung ihres nächsten Kampfes, dann soll es losgehen. Angst davor hat sie nicht, nur ein unsicheres Gefühl. Nicht alles ist durch Kampf und Ehrgeiz zu lösen. Aber sie will es tun. Unbedingt.

Runterkommen auf dem Laufband. 30 Minuten in einem Tempo, das für manche auch ohne Training davor zu schnell wäre. Aber sie kann das ab - im Oktober ist sie in Chicago Marathon gelaufen. Sie wollte einmal spüren, wie das ist. Aber Boxen ist ihr lieber. "Du musst nicht gegen dich selbst kämpfen, du hast einen Gegner vor dir", sagt sie. Angst, am Ende ihrer Karriere mit zerschlagener Nase und Narben im Gesicht dazustehen, hat sie nicht. "Ich nehme nicht so gerne", sagt sie, "lieber ausweichen und schnell und präzise kontern."

Jede andere Antwort hätte einen auch gewundert.


  • Alesia Graf beim Training. Copyright: picture-alliance
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