"Wir müssen gleiche Chancen schaffen" - Interview mit Prof. Boos-Nünning

Prof. Dr. Ursula Boos-Nünning (Universität Duisburg/Essen), Referentin beim Migratinnen-Diskussionsforum in Berlin, hat im Dezember 2004 gemeinsam mit Prof. Dr. Yasemin Karagasoglu (Universität Bremen) eine Untersuchung zu den Lebenswelten von jungen Migratinnen in Deutschland vorgestellt. Erfasst wurden 950 junge Frauen im Alter von 15 bis 21 Jahren türkischer, griechischer, italienischer, ehemals jugoslawischer Herkunft sowie Aussiedlerinnen in Deutschland.

Prof. Ursula Boos-Nünning, Foto: Universität Essen
Prof. Ursula Boos-Nünning, Foto: Universität Essen

Der Sport als ein Teil der Untersuchung wurde im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend durchgeführt. Ein Jahr nach der Studie beschreibt die Sozialwissenschaftlerin noch einmal Ansätze aus der Studie.

 

   Sie haben gemeinsam mit Yasemin Karaksoglu im Frühjahr eine Studie vorgestellt, woraus deutlich hervorgeht, dass bei Mädchen und jungen Frauen mit Migrationshintergrund ein klarer Wunsch nach mehr Sport vorhanden ist. Wie kann die Diskrepanz zwischen dem Wunsch und der tatsächlichen Teilnahme an sportlicher Aktivität, also von Angebot und Nachfrage, verringert werden?

 

Prof. Boos-Nünning: In der Untersuchung wird ermittelt, dass ca. ein Viertel der jungen Frauen mit Migrationshintergrund sehr oft oder oft Sport treibt und ca. die Hälfte selten oder nie. 45 % würden gerne häufiger oder öfter sportliche Betätigung ausüben. In einer differenzierenden Auswertung werden verschiedene soziale Variablen und Einstellungsmuster im Hinblick auf den Einfluss auf sportliche Betätigung geprüft. Auf die sportliche Betätigung negativ wirken sich ein niedriges Bildungsniveau und ein niedriges Anspruchsniveau im Elternhaus aus wie auch Belastungen durch familiäre Bedingungen. Ein Zusammenhang lässt sich zwischen Körperpflege und dem Körperbild nachweisen. Keinen Zusammenhang gibt es zwischen Religionsgruppenzugehörigkeit und sportlicher Betätigung, wohl aber wirkt sich eine starke religiöse Bindung positiv aus.

Bei einer multivariaten Kausalanalyse erweisen sich die Formen der Freizeitgestaltung als wichtige Variable. Das bedeutet, dass der Kontext der Sportangebote geändert werden musste, auch in Richtung auf mehr mädchenspezifische sportliche Betätigungen.

 

   Für Frauen und Mädchen mit Migrationshintergrund wurde in Deutschland bisher nur wenig unternommen, ihre Probleme viel seltener wahrgenommen. Sie werden von ihren Männern meist noch dominiert. Woran lag diese fehlende Wahrnehmung?

 

Prof. Boos-Nünning: Die öffentliche Aufmerksamkeit in Deutschland richtet sich seit Jahren auf die Frauen mit Migrationshintergrund, allerdings in einer spezifischen Sichtweise. Sie konzentriert sich auf junge Frauen muslimischer Religion und beschreibt Auffälligkeiten und Defizite, gemessen an deutschen Frauen. Es fällt auch heute noch schwer, auf die Wahrnehmung der Differenziertheit der jungen Frauen und auf ihre Wünsche und Ressourcen zu verweisen.

 

   Was kann der Sport leisten, um eine bessere Integration zu erreichen, welche Wege sollten gegangen werden?

 

Prof. Boos-Nünning: Der Sport müsste – wie in unserem Beitrag „Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund und Sport" im Ersten Deutschen Kinder- und Jugendsportbericht (2003) beschrieben - die interkulturelle Öffnung seiner Vereine und Vereinsstrukturen leisten, durch systematische Einbeziehung von Konzepten interkulturellen Lernens; die Förderung von gemeinsamen Projekten von Zugewanderten und Deutschen sowie multikulturellen Vereinen; die Einbeziehung von Personen mit Migrationshintergund als hauptamtliches Personal gemäß dem Anteil der Migrationsangehörigen im Stadtteil oder in der Stadt und durch die Vermittlung von interkulturellen Kompetenzen an das „deutsche" Personal; gleichberechtigte Teilhabe der ethnischen Communities und der ethnischen Sportvereine.

 

   Vertreter von Migrantinnen-Verbänden sehen ein Problem in der nicht ausreichenden Kommunikation. Sie fordern beispielweise mehr Flyer und Aushänge über die angebotenen Sportprogramme für junge Migrantinnen. Sehen Sie in dem fehlenden Aufeinanderzugehen ein Problem?

 

Prof. Boos-Nünning: Die fehlende Inanspruchnahme von deutschen Angeboten, die sich in allen Bereichen nachweisen lässt ist nicht durch schriftliche Hinweise (Flyer und Aushänge) zu verringern. Es bedarf der Entwicklung von Angeboten, die mittels Partizipation der jungen Frauen und ihrer Organisationen sowohl inhaltlich (z.B. Kampfsportarten), als auch organisatorisch (z.B. frauenspezifische Rahmenbedingungen) gestaltet werden.

 

   Vor dem Hintergrund der Unruhen in Paris gewinnt die Integrationsarbeit in Deutschland immer mehr an Bedeutung. Müssen die Anstrengungen für eine bessere Integration nicht vielmehr verstärkt werden, wie es des designierte Innenminister Wolfgang Schäuble gerade angekündigt hat?

 

Prof. Boos-Nünning: Vor leichtfertigen Übertragungen der Pariser Umstände auf die deutsche Situation muss nachdrücklich gewarnt werden. Unabhängig davon sind die Mängel, die das deutsche Bildungssystem und die Kinder- und Jugendhilfe wie auch die Sportvereine im Hinblick auf die Bildung und Teilhabe der Jugendlichen mit Migrationshintergrund geleistet haben, außerordentlich gravierend, insbesondere im Hinblick auf das Scheitern an der Schule; die Diskriminierung im Übergang in eine berufliche Ausbildung und in einen Beruf; die fehlende Ansprache durch nahezu alle Aspekte der Kinder- und Jugendhilfe; die fehlende interkulturelle Öffnung in allen Bereichen, so auch im Sport.

Es geht um Annerkennung und Teilhabe sowohl im Rahmen des Vereinslebens, als auch an den sozialen Ressourcen unserer (gemeinsamen) Gesellschaft. Es geht darüber hinaus um die Überwindung von paternalistischen Mustern, die sich oftmals hinter Begriffen wie Integration verstecken. Wir müssen im Sport wie in allen anderen Bereichen Bedingungen schaffen, die gleiche Chancen ermöglichen. Wir können es uns in Deutschland nicht leisten, nahezu ein Drittel der Kinder und Jugendlichen unseres Landes – so groß ist der Anteil der Gruppe mit Migrationshintergrund – in nahezu allen Bereichen am Rande stehen zu lassen und zwar nicht in erster Linie aus Sorge um Unruhen, sondern aus Sorge um die Zukunft unseres Landes.


  • Prof. Ursula Boos-Nünning, Foto: Universität Essen
    Prof. Ursula Boos-Nünning, Foto: Universität Essen