„Wir müssen uns mehr den Migrantenfamilien annähern, um sie besser zu integrieren“ – Interview mit Dr. Sabine Seidenstücker

Dr. Sabine Seidenstücker (Universität Erlangen) war eine von drei Referentinnen beim Berliner Migrantinnen-Diskussionsforum. Die wisennschaftliche Mitarbeiterin des Institutes für Sportwissenschaften an der Universität Erlangen beschäftigt sich seit einiger Zeit mit der Integration von jungen Migrantinnen im und durch den Schulsport. Thema ihrer Rede beim Forum: Chancen und Möglichkeiten für Migrantinnen durch den Schulsport.

Frau Dr. Seidenstücker (rechts) während des Diskussionsforums, links Frau Markl von der Deutschen Sportjugend
Frau Dr. Seidenstücker (rechts) während des Diskussionsforums, links Frau Markl von der Deutschen Sportjugend

   Immer mehr Mädchen und muslimische Frauen werden vom Sportunterricht befreit. In Hamburg gibt beispielsweise eine Lehrerinitiative, die sich dagegen wehrt. In vielen anderen Städten fühlen sich Lehrer mit diesem Problem überfordert oder machtlos. Was kann getan werden, um diese Situation zu verbessern?

 

Dr. Seidenstücker: Die beste Möglichkeit etwas an dieser Situation zu verbessern, sind Gespräche zwischen den betroffenen Lehrern, Eltern, Kindern und, wenn an der Schule vorhanden, mit einem zweisprachigen Sozialarbeiter. Die muslimischen Mädchen sind dabei das geringste Problem. Eine Untersuchung hat ergeben, dass 65 – 70 % der Mädchen gerne zum Sportunterricht gehen würde, aber nicht darf. Wenn es in einem Gespräch klappt, die Eltern davon zu überzeugen, dass der Sportunterricht gut und gesundheitsfördernd für ihr Kind ist, kann das auch ein Signal für andere muslimische Eltern sein. Denn der Islam verbietet nicht den Sport für Mädchen und Frauen.

 

   Besteht eine Lösung darin, Befreiungen durch einen Hausarzt der jungen Mädchen von einem Amtsarzt überprüfen zu lassen und damit die Eltern der Migrantinnen aufzufordern ihre Töchter am Sportunterreicht teilnehmen zu lassen?

 

Dr. Seidenstücker: Die Rechtslage ist im Falle einer Befreiung vom Sportunterricht äußert schwierig. Vor einigen Jahren hat ein Gericht einem Antrag einer Migranntenfamilie auf Befreiung stattgegeben. Seitdem wurde die Rechtslage nicht redigiert. Natürlich kann eine Schule, wenn sie glaubt, dass die Befreiung nicht aus gesundheitlicher Sicht erfolgt ist, eine Überprüfung vornehmen. Doch meist fehlen Zeit und Engagement. Außerdem ist die Regelung, wonach ein Hausarztattest von einem Amtsarzt überprüft werden darf in jedem Bundesland unterschiedlich geregelt. Einige Schulen haben auch eine Hausordnung, wonach z.B. immer ein Amtsarzt hinzugezogen wird, wenn die Befreiung länger als 6 Wochen andauert. Hier müsste es eine einheitliche Regelung geben.

 

   Oder sollte man an den Schulen tätig werden, um die Situation von vorne herein zu entschärfen?

 

Dr. Seidenstücker: Genau da sollte, neben den Gesprächen, der Ansatz geschaffen werden, um den Mädchen, die aus religiösen Gründen nicht am Sportunterricht teilnehmen sollen oder wollen, zu helfen. Wichtige Faktoren sind dabei mehr Sportlehrerinnen, kein gemischter Unterricht in der Pubertät und genügend Umkleidemöglichkeiten, um den muslimischen Mädchen die Chance zu geben, sich allein umzuziehen. Wichtigste Voraussetzung ist dabei natürlich das Verständnis und auch die Kenntnis der Lehrer in Bezug auf die Erziehungsgebote und Traditionen der Zuwanderer. Muslimische Mädchen dürfen sich beispielsweise nicht anderen nackt zeigen oder müssen im Sportunterricht ein Kopftuch tragen. Wenn dieses Verständnis für die Erziehung und Tradition anderer Religionen und Kulturen vorhanden ist, ist eine gute Grundlage geschaffen, um auch ohne Gesetze den Mädchen die Teilnahme am Sportunterricht zu ermöglichen.

 

   Welche Chancen bieten sich für junge Migrantinnen, wenn der Schulsport es schafft, Hemmungen und Vorurteile zu überwinden?

 

Dr. Seidenstücker: Der Schulsport hat das wahnsinnige Potential alle Kinder an den Sport heran zuführen und damit natürlich auch eine unglaubliche Integrationsfunktion, wenn er richtig funktioniert. Denn durch keinen anderen Unterricht kann ein Kind besser in die Klassengemeinschaft aufgenommen werden, als durch den Sport, da hier gute deutsche Sprachkenntnisse nicht so wichtig sind wie in anderen Fächern. Doch um diese Integration zu erreichen, müssen die richtigen Voraussetzungen geschaffen werden. Neben den äußeren Bedingungen sind die entscheidenden Faktoren dabei die Lehrer und die sind oft mit der Situation überfordert. Beispielsweise fehlen dazu auch die entsprechende Ausbildung in der Studienzeit oder spezielle Weiterbildungen. Ein weiteres Manko ist die unzureichende oder fehlende Kooperation zwischen Schule und Vereinen. Es müsste mehr Informationen oder Arbeitsgemeinschaften geben, um gerade muslimischen Mädchen an den Sport heranzuführen.


  • Frau Dr. Seidenstücker (rechts) während des Diskussionsforums, links Frau Markl von der Deutschen Sportjugend
    Frau Dr. Seidenstücker (rechts) während des Diskussionsforums, links Frau Markl von der Deutschen Sportjugend